Details #9 (12 | 2022)


Gemeinsam für mehr Teilhabe geflüchteter Kinder und Familien am Kinder- und Jugendhilfesystem. Zugänge schaffen und Kooperationen fördern!

Nach zwei Jahren endet das gemeinsame Pilotprojekt von Save the Children Deutschland e.V. und Plan International Deutschland e.V. Einblicke in die Projektumsetzung und die gewonnen Erfahrungen und Erkenntnisse geben Janneke Stein (Save the Children Deutschland e.V.) und Luisa Gebauer (Plan International Deutschland e.V) – Leitung des Projektes – in einem Gespräch.

Im Januar 2021 startete das Pilotprojekt „Gemeinsam für mehr Teilhabe geflüchteter Kinder und Familien am Kinder- und Jugendhilfesystem. Zugänge schaffen und Kooperationen fördern!“ von Save the Children Deutschland e.V. und Plan International Deutschland e.V.

Hintergrund ist, dass sich Kinderschutz in Erstaufnahmeeinrichtungen für geflüchtete Menschen immer noch überwiegend auf die Ergreifung reaktiver Maßnahmen bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung konzentriert. Studien und Erfahrungen aus der Praxis lassen darauf schließen, dass eine regelmäßige Zusammenarbeit zwischen Erstaufnahmeeinrichtungen und öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendarbeit eher selten besteht. Zusätzlich erschweren Barrieren auf Seiten der geflüchteten Familien den Zugang zu Angeboten der öffentlichen und freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe, wie fehlende Kenntnisse über die eigene Leistungsberechtigung sowie über den Aufbau und die Rolle des deutschen Kinder- und Jugendhilfesystems. Auf Seiten der Hilfeträger verstärkt mitunter ein Mangel an migrationssensiblen Informationen und Angeboten diese Barrieren. Im Ergebnis nehmen geflüchtete Familien in Erstaufnahmeeinrichtungen kaum Unterstützungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch.

Um die Teilhabe und gesunde Entwicklung geflüchteter Kinder zu gewährleisten, sollten bereits während der Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen auch präventive Angebote der öffentlichen und freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe für geflüchtete Familien zugänglich sein. Das Projekt von Save the Children und Plan International zielt auf die Überwindung dieser Zugangsbarrieren ab, um die Zugänge zum Kinder- und Jugendhilfesystem für geflüchtete Kinder und ihre Familien in Erstaufnahmeeinrichtungen nachhaltig zu verbessern. Modellhaft wurde in zwei Bundesländern der Aufbau und die strukturelle Verankerung von langfristigen, zielgerichteten Kooperationen zwischen den relevanten Akteur:innen gefördert. Daneben wurden die relevanten Akteur:innen zu den Themen Flucht, Migration und Kinderrechte sensibilisiert. Das in den zwei Bundesländern generierte Erfahrungswissen und die Beispiele Guter Praxis sollen bundesweit bekannt gemacht werden.

Wie genau das in der Projektumsetzung aussah, welche Ergebnisse erzielt und welche Erkenntnisse erlangt wurden aber auch welche Perspektive sich hieraus für das Thema „Teilhabe geflüchteter Kinder und Familien am Kinder- und Jugendhilfesystem“ ableiten lässt, erläutern Janneke Stein (Save the Children) und Luisa Gebauer (Plan International) im Gespräch.

Liebe Frau Stein, liebe Frau Gebauer, die oben skizzierte Ausgangslage und Idee des Projektes haben Sie nunmehr zwei Jahre zur Umsetzung gebracht. Wie genau sah die Umsetzung aus und was waren wesentliche Schritte bzw. Bestandteile der Projektumsetzung? Wie sind Sie vorgegangen?

Luisa Gebauer: Zunächst haben wir nach Landesregierungen gesucht, die Interesse an der Projektarbeit und an einer Verbesserung der Zusammenarbeit ihrer Landesaufnahmeeinrichtungen mit den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe zeigten. Die ersten gemeinsamen Schritte mit den Partnerbundesländern Thüringen und Rheinland-Pfalz waren anschließend die Auswahl der Pilotstandorte sowie die Benennungen von jeweils einer Steuerungsgruppe. Diese haben die Projektmaßnahmen in ihrem Bundesland mitgetragen und in den zwei Jahren der Projektlaufzeit immer wieder Veränderungen in den Landesaufnahmeeinrichtungen und in der kommunalen Jugendhilfe angestoßen. Neben den Leitungen der Landesaufnahmeeinrichtungen, waren die Leitungen der Allgemeinen Sozialen Dienste, die Jugendhilfeplaner:innen der Jugendämter, sowie Vertreter:innen aus den Ministerien beteiligt. Sie alle haben die Projektaktivitäten in ihren Zuständigkeitsbereichen unterstützt. Dazu zählten zum Beispiel die Durchführung von regionalen Netzwerktreffen und überregionalen Online-Schulungsveranstaltungen für Fach- und Führungskräfte der Kinder- und Jugendhilfe, sowie die Entwicklung von Handlungsleitfäden zur Verbesserung der Zusammenarbeit und schließlich die Veranstaltung eines Online-Fachgespräches zur Verbreitung der Projektergebnisse.

Vor welchen Herausforderungen standen Sie bei der Umsetzung des Projektes?

Janneke Stein: Bei Projekten, die Strukturen und Prozesse verändern und verbessern sollen, kann es vorkommen, dass sie angesichts akuter dringender Prioritäten in der Tagesordnung nach hinten rutschen.

Da unser Projekt, wie viele andere, inmitten der Covid-19-Pandemie gestartet ist, galt es, die Projektaktivitäten stets an Risiken und Schutzmaßnahmen anzupassen und die Durchführung abzuwägen. So konnten wir uns zum Beispiel nicht so häufig wie geplant innerhalb des Teams zwischen Hamburg und Berlin und mit den Kooperationspartner*innen in Thüringen und Rheinland-Pfalz treffen. Die persönlichen Netzwerk- und Steuerungsgruppentreffen waren rückblickend die gewinnbringendsten Austauschformate. Des Weiteren kam in Rheinland-Pfalz die Flutkatastrophe hinzu, weswegen die kooperierende Behörde für einige Zeit die Projektarbeit pausieren musste. Der Ukraine-Krieg, die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und die damit verbundene steigende Zahl schutzsuchender Menschen in Deutschland hatten zur Folge, dass die Aufnahmeeinrichtungen, in denen unser Projekt umgesetzt wurde, sehr knappe personelle Ressourcen hatten und unsere Projektaktivitäten dementsprechend angepasst werden mussten.

Was hat besonders gut geklappt? Was waren in den letzten zwei Jahren Ihre Highlights?

Luisa Gebauer: Das Engagement vieler Projektbeteiligter hat dazu beigetragen, dass wir trotz der von Frau Stein beschriebenen Herausforderungen alle Projektaktivitäten umsetzen konnten. An manchen Standorten waren die Vertreter:innen der freien Jugendhilfe sehr an dem Projekt und der Zielsetzung interessiert. Die Netzwerkveranstaltungen mit ihnen gehören zu den Highlights der Projektarbeit. Zudem ist die große Mitwirkungsbereitschaft der Jugendämter zu nennen, die teilweise selbst eine Berater:innenrolle gegenüber den Aufnahmeeinrichtungen eingenommen haben. So hat sich die Qualität der Zusammenarbeit der Akteure sehr gut weiterentwickelt.

Die Projektpilotierung in zwei Bundesländern ist abgeschlossen. Was sind aus Ihrer Sicht wesentliche Ergebnisse und Erkenntnisse aus der Pilotierung des Projektes und den zwei Jahren Projektlaufzeit?

Janneke Stein: Als wesentliches Ergebnis können wir die verbesserte Vernetzung und Sensibilisierung im Bereich des präventiven Kinderschutzes feststellen. So haben wir durch die Einführung unterschiedlicher Austauschformate zwischen Einrichtungsleitungen, Sozialen Diensten, Landesministerien, Jugendämtern und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe die besonderen Unterstützungsbedarfe schutzsuchender Kinder und ihrer Familien und die möglichen Synergien mit dem Kinder- und Jugendhilfesystem auf die Agenda gesetzt. Die Zusammenarbeit zwischen den Aufnahmeeinrichtungen und den öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe konnte so grundlegend gestärkt und die Kommunikation verbessert werden. Letztendlich konnte pro Bundesland ein Leitfaden entwickelt werden, in dem abgestimmte Standards im reaktiven und präventiven Kinderschutz festgehalten werden.

Welche Bedingungen sind wesentlich, damit Zugänge geschaffen und eine Teilhabe geflüchteter Kinder und Familien am Kinder- und Jugendhilfesystem gelingen kann?

Luisa Gebauer: Zunächst müssen die Akteure der Jugendhilfe, insbesondere die öffentlichen in den Jugendämtern sich ihrer Verantwortung geflüchteten Kindern und Jugendlichen gegenüber bewusst sein. Nur dann kann es gelingen, sie als Zielgruppe in der kommunalen Bedarfsplanung angemessen zu berücksichtigen. Das betrifft sowohl die migrationssensible und vorurteilsbewusste Ausgestaltung von Angeboten als auch von Angebotszugängen.

Für Kinder und Familien, die in Aufnahmeeinrichtungen leben müssen, ist zudem die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen sehr wichtig. Unterkünfte müssen sich als offene Einrichtungen verstehen, die proaktiv und gezielt Kooperationen im Sozialraum initiieren. Eine Netzwerkstelle für externe Akteure, Kooperationsvereinbarungen und anlassunabhängige Formate der Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt sind wichtige Gelingensbedingungen. Auch ein personell und fachlich gut ausgestatteter Sozialdienst, der Verweisberatung leistet und eine Anschlussstelle für externe Hilfen sein kann, ist wichtig.

Was braucht es perspektivisch, basierend auf Ihren im Rahmen des Projekts gesammelten Erfahrungen und Erkenntnissen, um die Teilhabe geflüchteter Kinder und Familien am Kinder- und Jugendhilfesystem (flächendeckend) weiter voranzutreiben? Was wäre aus Ihrer Sicht noch notwendig?

Janneke Stein: Um die Teilhabe am Kinder- und Jugendhilfesystem für geflüchtete Kinder und ihre Familien sicherzustellen, ist eine Verankerung des Themas auf der politischen, behördlichen aber auch individuellen (Mitarbeiter:innen-)Ebene wichtig.

In jedem Fall ist es grundlegend, dass die geflüchteten Kinder und Familien über ihre Rechte und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Kinder- und Jugendhilfe informiert werden und ihre Unterstützungsbedarfe durch eine im Kinderschutz geschulte Person an das örtliche Jugendamt übermittelt werden. Nur so kann sich das Kinder- und Jugendhilfesystem auf etwaige Bedarfe einstellen und die Kinder strukturell in der Jugendhilfeplanung berücksichtigen.

Des Weiteren muss geklärt werden, wer für die Finanzierung der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe für die jeweilige Zielgruppe zuständig ist. Da Erstaufnahmeeinrichtungen in Zuständigkeit der Bundesländer liegen, ist es empfehlenswert, dass die Ministerien für Migration und Aufnahme und die für die Landesjugendhilfeplanung zuständigen Ressorts beauftragt werden, präventive Angebote, die nicht über den Sozialen Dienst der Einrichtung abgedeckt werden, in Absprache mit dem Jugendamt und den freien Trägern der jeweiligen Standortkommune zu etablieren. Das kann zum Beispiel eine niedrigschwellige Elternberatung oder die Anbindung der Kinder an offene Freizeitangebote betreffen aber auch längerfristige einzelfallbezogene Hilfen, je nachdem wie lange die Familien in der Unterkunft leben müssen.

Zuletzt muss sich das Kinder- und Jugendhilfesystem vor allem im Bereich der antirassistischen und transkulturellen Arbeit mit Kindern und Familien weiterentwickeln.

Liebe Frau Stein, liebe Frau Gebauer, vielen Dank für das Gespräch.

 

Weiterführende Infos

Informationen zum Projekt „Gemeinsam für mehr Teilhabe geflüchteter Kinder und Familien am Kinder- und Jugendhilfesystem. Zugänge schaffen und Kooperationen fördern!" auf der Webseite von Save the Children

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