Der erhöhte Zuzug von schutzsuchenden Menschen im Jahr 2015 und den Folgejahren hat die für die Unterbringung und Versorgung von schutzsuchenden Menschen zuständigen Landesministerien und Kommunen vor enorme Herausforderungen gestellt. Während insbesondere der Aufbau von Kapazitäten im Vordergrund des Verwaltungshandelns stand, haben das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) im Jahr 2016 die Bundesinitiative „Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ mit dem Ziel ins Leben gerufen, einheitliche Standards zu etablieren. Als Netzwerk von einschlägigen staatlichen Stellen und zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, der Frauenhauskoordinierung e.V., der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, dem Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V., der Stiftung deutsches Forum für Kriminalprävention, dem Deutschen Institut für Menschenrechte oder auch Save the Children und Plan International sowie den Bundesverbänden der Freien Wohlfahrtspflege treffen sich die beteiligten Organisationen unter Federführung des BMFSFJ seither im vierteljährlichen Rhythmus.
Auf Grundlage der gebündelten Expertise in der Bundesinitiative wurden mit den „Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ im Juni 2016 erstmals einheitliche Mindeststandards erarbeitet. Die „Mindeststandards“ dienen als Leitlinien für die Verbesserung des Schutzes von vulnerablen Personen in Flüchtlingsunterkünften und richten sich zum einen an Vertreterinnen und Vertreter von Behörden auf Landes- und kommunaler Ebene, zum anderen an Vertreterinnen und Vertreter von Betreiber- und Trägerorganisationen und Schlüsselpersonen in Flüchtlingsunterkünften. Differenziert nach den wichtigsten Handlungsfeldern – wie u. a. Personal und Personalmanagement, einrichtungsinterne Strukturen, Netzwerk- und Kooperationsstrukturen, Prävention und Risikomanagement – unterstützen die „Mindeststandards“ die partizipative Erstellung und Umsetzung von einrichtungsinternen Schutzkonzepten.
Um die Erfahrungen aus der Praxis einfließen zu lassen und den Fokus auf schutzbedürftige Personengruppen weiter auszudifferenzieren, wurden die „Mindeststandards“ mit Unterstützung von 30 Organisationen und Verbänden sowie Bewohnerinnen und Bewohnern von Flüchtlingsunterkünften zwischenzeitlich überarbeitet. Seit Oktober 2018 liegen die „Mindeststandards“ in nunmehr dritter, erheblich erweiterter Auflage vor – mitsamt Annexen zu LSBTI* Geflüchteten, geflüchteten Menschen mit Behinderungen und für geflüchtete Menschen mit Traumafolgestörungen. Außerdem wurden Begleitpublikationen veröffentlicht, die einzelne Schwerpunkte aufgreifen und praxisnah vertiefen.
Um die Umsetzung der Mindeststandards in der Praxis zu erproben, haben das BMFSFJ und UNICEF ein umfangreiches Förderprogramm aufgelegt. Im Zuge des Programms wurden 100 Vollzeitstellen für Gewaltschutzkoordinierung in Flüchtlingsunterkünften vom BMFSFJ gefördert. Die Gewaltschutzkoordinatorinnen und -koordinatoren waren mit der Aufgabe betraut, die Erstellung und Umsetzung von einrichtungsspezifischen Schutzkonzepten zu koordinieren. Sie konnten hierbei auf eine von UNICEF eigens entwickelte Unterstützungsstruktur zurückgreifen. Diese Unterstützungsstruktur bestand aus einer Toolbox zur Entwicklung und Umsetzung von einrichtungsspezifischen Schutzkonzepten mit vielen Instrumenten und Leitfäden, zwei viertägigen Schulungen zu den Mindeststandards mit von UNICEF zertifizierten Trainerinnen und Trainern, themenspezifischen Online-Workshops, vor Ort Besuchen durch UNICEF Expertinnen, der Etablierung eines 'Buddy'-Systems zum kollegialen Austausch und regelmäßigen Veranstaltungen. Allein durch die Schulungen konnten etwa 1500 ehrenamtlich und hauptamtlich Beschäftigte in Flüchtlingsunterkünften mit den Mindeststandards vertraut gemacht und für Fragen des Schutzes von besonderes vulnerablen Personen sensibilisiert werden.
Im Jahr 2016 wurde das Förderprogramm in Zusammenarbeit mit den Bundesverbänden der Freien Wohlfahrtspflege in bundesweit 25 Flüchtlingsunterkünften pilotiert. Ab dem Jahr 2017 haben das BMFSFJ und UNICEF das Förderprogramm auf bundesweit insgesamt 100 Flüchtlingsunterkünfte skaliert. Zum Ende des Jahres 2018 wurde das Förderprogramm abgeschlossen.
Seither konnten einige nennenswerte Erfolge erzielt werden: So haben einige Bundesländer und Kommunen sowie Betreiber- und Trägerorganisationen die Stellen für Gewaltschutzkoordinierung verstetigt. Teilweise wurden Stellen in Anlehnung an das Förderprogramm neu geschaffen bzw. die Aufgaben der Gewaltschutzkoordinatorinnen und -koordinatoren in bestehende Stellen inkorporiert. Die im Zuge der Entwicklung von einrichtungsspezifischen Schutzkonzepten auf Grundlage der „Mindeststandards“ gewonnen Erfahrungen sind teilweise auch in Landesschutzkonzepte eingeflossen. Unmittelbare Bezugnahmen finden sich beispielsweise in den Landesschutzkonzepten Bayerns, Hessens und Niedersachsens. In Berlin wurde die Umsetzung der Mindeststandards in den Koalitionsvertrag aufgenommen.
In unmittelbarem Anschluss an das Förderprogramm in den Jahren 2016 bis 2018 hat das BMFSFJ gemeinsam mit den Bundesverbänden der Freien Wohlfahrtspflege ab dem Jahr 2019 das Projekt „Dezentrale Beratungs- und Unterstützungsstruktur für Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften“ (DeBUG) auf den Weg gebracht. Ziel ist es, die gewonnen Erfahrungen in die Fläche zu bringen. Hierfür bieten erfahrene Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für Gewaltschutz an bundesweit sieben Standorten Betreiber- und Trägerorganisationen von Flüchtlingsunterkünften, aber auch Landes- und kommunalen Behörden dezentral Unterstützung und Beratung bei Fragen zum Gewaltschutz sowie bei der Entwicklung und Umsetzung von einrichtungsspezifischen Schutzkonzepten an.
Mit dem Pilotprojekt "Monitoring und Evaluierung eines Schutzkonzeptes für geflüchtete Menschen in Flüchtlingsunterkünften" des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) fördert das BMFSFJ im Rahmen der Bundesinitiative seit Juni 2019 außerdem ein Projekt, dass die Umsetzung des "Mindeststandards 6: Monitoring und Evaluierung des Schutzkonzeptes" erprobt. Aufbauend auf bisherigen Vorarbeiten einer Indikatorenentwicklung wird ein modulares System zum Monitoring der Mindeststandards in Zusammenarbeit mit der Bundesinitiative sowie zwei Pilotstandorten entwickelt. Ziel ist ein einfach zu bedienendes Tool (App) zum kontinuierlichen Monitoring der Umsetzung von Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften unter Beteiligung von Unterkunftsleitung, Gewaltkoordinator*innen, Sozialarbeiter*innen, Bewohner*innen und weiterer Stakeholder. Parallel findet an den zwei Pilotstandorten eine qualitative Evaluation der Gewaltschutzprozesse statt.
Des Weiteren hat UNICEF Mittel für die Umsetzung von weiteren | Schulungen zu den Mindeststandards | im Jahr 2019 und dem ersten Halbjahr 2020 zur Verfügung gestellt. Mit der Koordinierung der Schulungen ist die Servicestelle Gewaltschutz betraut. Die Servicestelle Gewaltschutz kooperiert hierfür insbesondere mit Landesministerien und nachgeordneten Behörden und greift auf das von UNICEF entwickelte Trainingshandbuch und den aufgebauten Pool von Trainerinnen und Trainern zurück.
Da die Verbesserung des Schutzes von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften eine Akteurs- und Ebenen-übergreifende Aufgabe ist, fördert die Bundesinitiativen seit ihrer Gründung den Wissenstransfer zwischen Politik, Zivilgesellschaft, Behörden und Praxis. Dies erfolgt durch Veranstaltungen wie regelmäßige Netzwerktreffen und Fachtage, aber auch durch regionale Fachveranstaltungen in Kooperation mit Landesministerien.
Mit den jüngsten Regelungen im Asylgesetz (§§ 44 Abs. 2a, 53 Abs. 3 AsylG), die im August 2019 in Kraft getreten sind, unterstreicht der Gesetzgeber die Verpflichtung der Bundesländer und der Kommunen, „geeignete Maßnahmen“ zum Schutz von besonders vulnerablen Personengruppen in Flüchtlingsunterkünften zu ergreifen. Unbestritten können Landesschutzkonzepte und einrichtungsspezifische Schutzkonzepte geeignete Maßnahmen sein, sofern sie verbindlich und praxiswirksam gestaltet sind. Im Zuge der Entwicklung von einrichtungsspezifischen Schutzkonzepten lassen sich außerdem blinde Flecken bezüglich des Schutzes von besonders vulnerablen Personen im Alltagsgeschehen identifizieren und weitere geeignete Maßnahmen entwickeln. Für die künftige Ausrichtung der Bundesinitiative bedeutet diese Entwicklung, weiterhin für eine flächendeckende Umsetzung der „Mindeststandards“ einzutreten, den Austausch zwischen Politik, Zivilgesellschaft, Behörden und Praxis auf allen Ebenen voranzubringen und konstruktive Lösungsansätze in den Dialog einzubringen.